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Ein Lottergoalie und ein komischer Trainer?

Der SCB verliert im kläglichsten Playoff-Heimspiel seit dem Wiederaufstieg gegen Zug 0:4. Was ein neutraler Berichterstatter zum Auftritt der «Mighty Bears» sagen würde.

Presse • • von Klaus Zaugg

Der Berichterstatter verspürt eine schier unbändige Lust, mit dem verbalen Zweihänder dreinzufahren. Aber er kann sich - Gott sei Dank - im letzten Moment gerade noch beherrschen. Schliesslich können die Berner diese Serie nach wie vor drehen. So wie sie es gegen Servette nach einem 1:3 ja auch geschafft haben. Der SCB kann noch immer ins Finale kommen! Und Meister werden!

Doch der Berichterstatter möchte künden von diesem schmählichen 0:4. Die Wahrheit nicht verschweigen. Und so verfällt er auf den Stil, der ihm am besten liegt: Der objektiven, unpolemischen Schilderung. So wie wenn er als gänzlich ahnungsloser, vorurteilsloser Reporter vom «The New Yorker» nach Bern entsandt worden wäre, um vom Eishockey aus der Hauptstadt dieser seltsamen Alpenrepublik zu berichten.

 

Zur Vorbereitung recherchiert er im Internet. Um zu erfahren, wer da überhaupt gegen wen antritt. Und kommt zum Schluss, dass es ganz ordentlich rocken und rollen und rumpeln wird. Denn er hat gelesen, dass der SCB im Selbstverständnis das wichtigste Hockeyunternehmen im Land sei und deshalb vor Europas grösster Zuschauerkulisse, wenn es nötig ist, arrogant, selbstsicher, herrisch und einschüchternd auftrete. Er stellt sich so etwas wie «Mighty Bears» vor.

 

Von Zug weiss er, dass das Finale seit dem einzigen Titel von 1998 nie mehr erreicht worden ist. Dass der Feuerkopf Doug Shedden viermal hintereinander im Halbfinal gescheitert ist und Zugs Trainer dazu neigt, in der Hektik den Überblick zu verlieren und verbal zu entgleisen. Also beste Voraussetzungen für ein emotionales Spektakel.

 

Kreisen in den Ecken und Angst vor den Schlägen

Und tatsächlich: Die grösste Stehrampe der Welt ist imposant. Die «Pre-game Show» mit dem grossen Fahnenaufzug zum Berner Marsch und dem brüllenden Bär auf dem Videowürfel provoziert Hühnerhaut. Ja, hier wird es schwierig sein, cool zu bleiben und zu siegen. Wahrlich, ein Hockey-Tempel. Aber dann traut der Fremde seinen Augen nicht. «Mighty Bears»? Nein, die Zuger kontrollieren Gänge und Läufe, Ebbe und Flut des Spiels. Wo bleiben die einschüchternden Checks? Die Emotionen? Die Leidenschaft?

 

Der Fremde sieht nur Helikopter-Hockey. Kreisen in den Ecken und Angst vor den Schlägen im Slot. 0:0 nach einem Drittel. Stimmt es wirklich, dass es um den Einzug ins Finale geht? Nur ein Berner fällt dem Berichterstatter auf. Die wilde Nummer 10. Tristan Scherwey. Einer, der furchtlos den «Infight» sucht. Schon fast die halbe Spielzeit ist um, da stürmt er vorwärts, zieht dann nach innen, direkt aufs Zuger Tor wie ein Raubvogel und rumpelt über den Torhüter hinweg.

 

Die Schiedsrichter geben zwei Minuten. Die TV-Zeitlupe zeigt, dass der Entscheid hundertprozentig richtig ist: Scherwey hat den Zusammenprall mit Jussi Markkanen gesucht. Und überhaupt: Wer ins Finale will, muss eine umstrittene Zweiminutenstrafe wegstecken können. Was ist bloss mit diesen Zuschauern los? Warum sind die so passiv? Es müsste doch möglich sein, viel mehr Lärm zu machen! Der Funke springt nicht. Nicht von den Spielern auf die Fans und nicht umgekehrt.

 

Bührers Statistik sagt alles

Die Zuger machen aus ihrem ersten Powerplay gleich das 1:0. Aber der Fremde, der nicht weiss, dass Marco Bührer hier als Vater der Titel von 2004 und 2010 Kultstatus hat, denkt: Was ist denn das für ein komischer Goalie-Kauz? Ein verunsicherter, miserabler Stilist. Kein Butterfly-Goalie, aber auch zu wenig reaktionsschnell. Er taucht viel zu früh, mit den Schonern ist er zu wenig flink. Der Fremde kramt in der Statistik und siehe da: Ein Lottergoalie: 85,71 Prozent Abwehrquote im 1. Spiel. 72,73 Prozent im zweiten Spiel. 92,86 Prozent im dritten Spiel. 81,84 Prozent im vierten Spiel. Und in dieser fünften Partie werden es am Ende 80,00 Prozent sein.

 

Eigentlich könnte der Berichterstatter seine Reportage hier beenden. Fakten sind stur. Das sagte schon der alte Lenin. Diese Zahlen sagen ganz emotionslos: Mit diesem Torhüter kann der SCB nicht gewinnen.

 

Ein Kunstturner auf Kufen

Die Zuger kontern die Berner gnadenlos aus. Sie bleiben cool, schirmen ihren starken Goalie ab und lassen den Puck für sich arbeiten. In der 34. Minute eine Szene, die alles erklärt: Da läuft ein Bub mit der Scheibe in die Berner Abwehrzone. Alles scheint bei ihm zu gross zu sein: Die Schuhe, das Leibchen, die Hosen und die Handschuhe. Und der Stock scheint viel zu lang. Später sieht der Fremde im Programm nach und sieht, dass Lino Martschini tatsächlich erst 20 Jahre alt, bloss 167 Zentimeter gross und 65 Kilo schwer ist. Und erfährt, dass sein Grossvater eine Kunstturn-Legende war. Ja, das passt: Ein Kunstturner auf Kufen.

 

Dieser flinke Hockeyzwerg zeigt keinerlei Angst vor den bösen Bären. Er kurvt frech einen Gegenspieler aus, legt die Scheibe zurück. Tic-tac-toe game und rums, die Scheibe liegt zum 2:0 im Tor. Und kurz darauf trifft er gar persönlich zum 3:0. Er macht die «Big bad Bears» lächerlich.

 

Der Hockey-Vulkan bricht nicht aus

Aber es gibt keine Reaktion. Was ist denn bloss mit dem Coach los? Der Fremde erfährt, dass mit Antti Törmänen ein freundlicher Finne an der Bande steht. Dass er einen sanften Führungsstil pflegt. Dass jeder tun und lassen darf, was seinen Neigungen entspricht. Fast ein wenig wie in einer Rudolf Steiner-Schule. Tönt gut. Aber im Eishockey werden Siege halt nicht ertanzt und ausdiskutiert.

 

Der Fremde stellt erstaunt fest, dass Coach der Zuger ja gar kein verbaler Haudegen ist, wie erzählt worden war. Vielmehr macht er einen ganz coolen Eindruck und dirigiert seine Jungs wie ein zu gross geratener Napoléon. Und nach dem Spiel wird er ihn als witzigen, leicht spottlustigen Entertainer erleben. Aber er hat ja gewonnen. Es kann ja schon sein, dass es stimmt, was die Leute sagen: Dass er dann, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten und die Schiris nicht so pfeifen wie er möchte, ganz anders auftreten kann. Der Hockey-Vulkan ist jedenfalls nicht ausgebrochen, ja, er hat nicht einmal ein wenig Rauch aufsteigen lassen.

 

Törmänen: «I don’t know»

Der Fremde versucht schliesslich, nach dem Spiel eine Erklärung für dieses seltsame Versagen des SC Bern zu finden. Alles ist sehr professionell organisiert. Fast wie in der NHL. Der SCB-Coach kommt in den Interview-Raum. Tatsächlich: Ein kultivierter, höflicher, leiser und intelligenter Mann. Kein raubeiniger Bandengeneral. Er weckt beim Fremden Mitleid. Selten hat er einen so ratlosen Hockeytrainer gesehen. «I don’t know» ist die häufigste Antwort auf die Fragen der Reporterinnen und Reporter.

 

Was soll er sonst auch sagen? Er rühmt den gegnerischen Goalie und die gute gegnerische Spielorganisation. Aber er wagt es nicht einmal, über den Schiedsrichter zu schimpfen. Die Strafe von Tristan Scherwey, die zum 1:0 führte, nennt er einen «big call». Also eine folgenschwere Entscheidung. Nicht eine Fehlentscheidung. Nach dem 1:0 habe man zu sehr das Spiel geöffnet. Und kommt schliesslich zur Erkenntnis: «Der Gegner hat Tore erzielt, wir nicht. So gewinnt man kein Spiel.»

 

Mit der Lismete an die Fashion Week

Und die Spieler? Ein furchteinflössender junger Mann mit schwarzem Bart kommt in den Interview-Raum. Er heisst Philippe Furrer. Von Beruf Verteidiger-Haudegen und durch einen NHL-Draft geadelt. Das ist also einer dieser «Big bad Bears». Er beginnt mit seiner Analyse. Höflich, gut erzogen. Er sagt, der SCB sei dann stark, wenn er wie eine Maschine funktioniere. Raus aufs Eis, arbeiten, nächster Wechsel, raus aufs Eis, arbeiten. Bis der Gegner vom Eis gearbeitet ist. Aber das gelinge nicht mehr. «Kleine Fehler stören den Lauf der Maschine.» Er sucht keine Ausreden. «Es liegt an uns. Der Gegner bekommt nur das, was wir zulassen.» Wohl war.

 

Dann kommt die Frage, wie es nun weiter gehen soll. Er sagt, es brauche jetzt diese Energie der Verzweiflung wie im Viertelfinal gegen Servette. Keiner sei zufrieden. Die Energie sei kein Problem. «Jeder von uns will dieses Finale unbedingt erreichen.» Grosse, schöne und richtige Worte. Aber der Haudegen mit dem schwarzen Bart sagt es höflich, leise und emotionslos. Er wirkt so überzeugend und mitreissend wie eine Handarbeitsschullehrerin aus dem oberen Frittenbach, die erklärt, man komme mit einer schönen Lismete auch an die Fashion Week in New York. Wenn man nur ganz, ganz fest wolle.

 

Ein Telefon-Tipp für Marc Lüthi

Der Fremde erfährt, dieser SCB habe den Viertelfinal gegen Servette nach einem 1:3-Rückstand doch noch 4:3 gewonnen. Das sei ein wilder, leidenschaftlicher, selbstsicherer und bisweilen arroganter SCB gewesen. Der Fremde will es nicht so recht glauben: Er hat soeben gegen Zug einen ängstlichen, zaghaften, verunsicherten und bisweilen ratlosen SCB gesehen. Und denkt: Da müsste einfach mehr vom Trainer kommen. Eigentlich ein Fall für eine Trainerentlassung. Doch der Fremde wird belehrt, dass man dies nicht denken, nicht sagen und schon gar nicht schreiben solle. Ja nicht! Der Trainer stehe nämlich unter dem persönlichen Schutz des General Managers Marc Lüthi und werde auf jeden Fall bleiben.

 

Der Fremde macht sowieso keine Polemik. Er beschränkt sich darauf, vorurteilslos zu schildern, was er gesehen und gehört hat. Es ist ja wirklich jetzt nicht der Moment, dreinzufahren. Es steht erst 3:2 für Zug. Vielleicht tritt ja der SCB am Samstag auf einmal auswärts in Zug arrogant, selbstsicher, herrisch und einschüchternd auf, holt zwei Siege hintereinander, kommt ins Finale und wird am Ende gar Meister! Man weiss nie, was kommt bei diesem unberechenbaren Spiel, das auf einer rutschigen Unterlage vorgeführt wird.

 

Der Chronist aus der Fremde verlässt das Stadion und geht in die kalte, regnerische Nacht hinaus. Und denkt: Wenn dieser SCB auf diese Art und Weise das Finale und einen möglichen Titel vergeigt, dann sollte er vielleicht doch den General Manager, diesen Marc Lüthi, anrufen. Und ihm im Vertrauen, so unter Pfarrerstöchtern sagen, dass er mit diesem Lottergoalie und diesem komischen Trainer keinen Blumentopf mehr gewinnen kann.