20 Minuten online

«Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen»

Der schwere Unfall von Olten-Verteidiger Ronny Keller bewegt die Schweiz. Der Verursacher, Langenthals Stefan Schnyder, erlebt eine schwere Zeit und spricht erstmals darüber.

Presse • • von Klaus Zaugg

NLB-Playoff-Halbfinale zwischen dem EHC Olten und dem SC Langenthal. Es steht 2:2, die letzten Minuten der Verlängerung laufen. Eine Dutzendszene: Langenthals Stürmer Stefan Schnyder braust in die Ecke, um an die Scheibe zu kommen. Oltens Verteidiger Ronny Keller versucht, ihn daran zu hindern, die Lauflinien der beiden Spieler kreuzen sich, sie prallen aufeinander und daraus wird ein tragischer Unfall. Keller fliegt kopfvoran in die Bande und muss schliesslich per Helikopter ins Paraplegiker-Zentrum nach Nottwil überführt werden.



Nichts in dieser Szene lässt auf böse Absicht oder ein «Durchdrehen» von Stefan Schnyder schliessen. Es ist eher ein tragischer Unfall. Stefan Schnyder ist ein technisch guter, kleiner, aber enorm kräftiger Flügel mit einem tiefen Schwerpunkt. Jeder Zusammenstoss mit ihm ist schmerzhaft. Ronny Keller ist ein fairer, technisch brillanter und spielstarker Verteidiger, der lieber im freien Raum konstruiert als im Zweikampf rumpelt. Auch er kein Hitzkopf, kein Provokateur und viel mehr Konstrukteur als Zerstörer oder Abräumer.

 

Harte, aber faire Serie

Langenthal und Olten spielen in diesem Halbfinale enorm intensives, aber nie schmutziges Eishockey. Langenthal spielt unter Heinz Ehlers sogar ausgesprochen europäisch. Nicht einmal Ansätze von «Goon-Hockey». Sondern sehr gut strukturiertes, technisches Lauf- und Tempohockey. Die Oltner spielen nordamerikanischer, direkter, und härter. Sie sind spielerisch leicht unterlegen. Aber zu keiner Sekunde ist es böses Hockey.

 

Aber Eishockey ist ein Sport, ausgeübt in höchstem Tempo auf einer rutschigen Unterlage durch kräftige, mit modernen Ausrüstungen gepanzerte Männer. Mit der Eleganz und Leichtfüssigkeit, wie wir es aus dem Ballett kennen. Aber eben auch mit dem Tempo, der Wucht und der Härte, die Kanadas Gotthelf an Mord mahnen. Oder es zumindest so aussehen lassen.

 

Die Gemüter sind aufgewühlt

Der Unfall von Ronny Keller, ausgelöst durch Stefan Schnyder, wühlt die Gemüter auf im Mittelland. Die Rivalität zwischen dem SC Langenthal und dem EHC Olten ist die heisseste im Schweizer Sport. Es ist eine seltsame, uralte Rivalität zwischen zwei Kleinstädten, die fast gleich gross sind, die oft im Nebel liegen, viel ähnlicher sind als sie zugeben und sich vielleicht deshalb im Eishockey nicht mögen. Es ist eine Rivalität, die sich an einem vermeintlichen Kulturunterschied entzündet, der ja gar keiner ist. Für die Oltner ist der SC Langenthal heute so etwas wie der SCB der NLB. Erst recht seit die Langenthaler vor zwei Jahren den Oltnern die beiden Kultausländer Brent Kelly und Jeff Campbell ausgespannt haben. Seither kultivieren die Oltner erfolgreich das Image des «Underdog».

 

Die Langenthaler versuchen alles, um die Emotionen vor dem Spiel am Freitag zu glätten und alles wieder auf eine sachliche Ebene zu bringen. Präsident Stephan Anliker sagt: «Wir bedauern diesen Unfall ausserordentlich und wünschen Ronny Keller eine schnelle und vollständige Genesung. Ich bin aber gegen eine Vorverurteilung von Stefan Schnyder. Es ist kein ‹Fall Schnyder›, es ist für mich eher ein ‹Fall Eishockey›. In einem so intensiven Sport können solche Unfälle leider passieren und deshalb wehre ich mich gegen vorschnelle Schuldzuweisungen. Wir sind uns bewusst, dass dieser tragische Zwischenfall diese Serie überschattet. Aber nun stehen beide Klubs in der Verantwortung, dieses Halbfinale im sportlichen Rahmen weiterzuführen und keine Emotionen zu schüren, die nichts mit dem Sport zu tun haben.» Er hat am Nachmittag lange mit Oltens Präsident Benvenuto Savoldelli telefoniert. Anliker, der pragmatische Architekt und Savoldelli, der hitzköpfige Anwalt, haben unterschiedliche Auffassungen. Aber sie reden wenigstens miteinander.

 

Einzelrichter Reto Steinmann hat inzwischen ein Verfahren gegen Stefan Schnyder eröffnet, die Parteien sind aufgefordert, bis am Donnerstagmittag die Unterlagen einzureichen. Bis am Freitagmittag wird entschieden, ob Stefan Schnyder für das Spiel am gleichen Tag gesperrt wird.

 

«Ich wollte nur vor ihm an die Scheibe kommen»

Aber daran denkt er jetzt nicht. Der Unfall, dessen Verursacher er ja ist, hat ihn aufgewühlt. Ronny Keller ist ja kein «Feind» für ihn und war es nie. Es gibt keine Rivalität zwischen den beiden Kollegen, sie kennen sich, sie üben den gleichen Sport aus. Er versucht in Worte zu fassen, was ihn bewegt: «Ich bedaure sehr, was passiert ist und hoffe einfach, dass Ronny schnell wieder gesund wird. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und Ronny eine SMS geschrieben. Wir kennen uns ja auch neben dem Eishockey. Die Szene geht mir immer wieder durch den Kopf und ich mache mir Vorwürfe. Wie konnte das nur passieren? Ich bin mit Ronny in die Ecke gefahren, so wie ich das schon hundertmal in einem Spiel getan habe und aus einer Verkettung von unglücklichen Umständen ist dieser tragische Unfall entstanden. Ich wollte ja nur vor ihm an die Scheibe kommen.»

 

Ja, so einfach ist es: Er wollte einfach an die Scheibe kommen. In der Schlussphase eines enorm intensiven Spiels. Wenn die Müdigkeit gross ist, die Reflexe nicht mehr frisch sind. Wenn die Gefahr von falschen oder ungeschickten Reaktionen steigt. Es ist, wenn wir es von allen Seiten betrachten, ein Unfall. Oder eben: Ein Eishockey-Arbeitsunfall. Es ist die Gefahr, die immer im Eishockey lauert und die Al Purdy in martialischen Worten ausgedrückt hat.