Berner Zeitung

«Man darf eine WM nicht überschätzen»

Der NHL-Scout Thomas Roost erklärt, warum er trotz den starken Leistungen der Schweizer an der Eishockey-WM nicht in Euphorie verfällt, und sagt, was die Topnationen uns noch voraushaben.

Presse • • von Alexander Kühn

 

Herr Roost, welcher Schweizer Spieler hat Sie an der WM bislang besonders beeindruckt?
Aus diesem starken Kollektiv ragt keiner ganz besonders heraus. Die positive Überraschung ist aber sicherlich Nino Niederreiter. Hinter seinen Formstand habe ich vor dem Turnier ein Fragezeichen gesetzt, denn er hat in der zweiten Saisonhälfte der Saison stark abgebaut, die Verantwortlichen der New York Islanders waren unzufrieden mit ihm. Nun wirkt er aber reifer und ist effektiv im engen Verkehr vor dem Tor. Er ist so etwas wie die Schweizer Antwort auf den Typus des nordamerikanischen Power Forwards, der sich mit körperbetontem Spiel durch die gegnerischen Verteidigungslinien tankt.

 

Wie weit kann der Weg der Schweiz an diesem Turnier führen?
Bei diesem Turnierformat ist vieles möglich, vielleicht sogar der Final. Ich habe durchaus etwas Hoffnung auf eine Medaille, möchte aber trotzdem auf die Euphoriebremse treten. Starke Schweizer Leistungen hat es in den Gruppenspielen schon früher gegeben, eine Medaille aber noch nie. Ein echter Fortschritt wäre es erst, wenn die Schweiz in der Knock-out-Phase erstmals einen der Grossen schlagen könnte.

 

In den Viertelfinals trifft die Schweiz vermutlich wieder auf Schweden, Kanada oder Tschechien. Wie viel schwieriger wird es dann?
Es wird schwieriger, keine Frage. Die Vorrunden-Niederlagen gegen die Schweiz haben für Schweden, Kanada und Tschechien noch keine Konsequenzen. Etwas böse formuliert könnte man sagen, dass sie sich erst warm gelaufen haben.

 

Haben die Grossen das Team von Nationaltrainer Sean Simpson unterschätzt?
Das glaube ich nicht. Sie wissen ungefähr, was sie zu erwarten haben. Im Spiel ohne Scheibe gehören die Schweizer zu den Allerbesten, sie laufen extrem viel und können hinten dicht machen. Die grossen Nationen wissen inzwischen, dass die Schweiz nur schwer zu besiegen ist, wenn man gegen sie in Rückstand gerät. Die bisherigen Spiele haben gezeigt, dass die Schweizer wenigstens resultatmässig nahe dran sind.

 

Kann man die Schweiz schon als Weltklasse-Nation bezeichnen?
Nein. In der Regel haben die Schweizer Probleme, wenn sie in Rückstand geraten. Dann fehlt ihnen die Klasse, um das Spiel zu machen. Zudem darf man eine WM nie überschätzen. Die Schweden zum Beispiel haben etwa 60 ganz starke Spieler in Nordamerika. Die besten von ihnen sind allesamt noch im NHL-Playoff engagiert.

 

Auch bei den Schweizern fehlen potenzielle Leistungsträger.
Natürlich. Aber immerhin fehlen bei uns nur drei bis vier der allerbesten Spieler, bei den grossen Nationen spielt mehr oder weniger die zweite Garnitur.

 

Ein Mann wie Mark Streit würde also nicht die ganz grosse Verbesserung im Schweizer Team bringen?
Streit würde nicht ganz so viel bewirken wie zum Beispiel Crosby/Toews, Malkin/Owetschkin oder Karlsson und die Sedins bei Kanada, Russland und Schweden. Streit ist ein 3,5-Millionen-Mann, und davor muss man den Hut ziehen. Zu einem High-End-Spieler, der 10 Millionen Dollar pro Jahr wert ist, fehlt ihm ein Stück. Die Schweizer NHL-Söldner würden die Qualität der Equipe nicht gleich stark potenzieren, wie es jene der Kanadier, Russen oder Schweden mit ihren besten Spielern könnten.

 

Stärker als die prominentere Schweizer Mannschaft der WM 2012 ist die aktuelle aber auf jeden Fall. Woran liegt das?
Das Schweizer Eishockey hat sich in der Breite sehr positiv entwickelt. Das sieht man unter anderem am höheren Niveau in der NLB. Vor zehn Jahren hat es einen grossen Schritt auf der Juniorenstufe gegeben. Unsere zweite Nationalmannschaftsgarnitur ist nur noch unwesentlich schwächer als die erste, das ist der Fortschritt im Schweizer Eishockey.

 

Wie beurteilen Sie die Kaderzusammenstellung für Schweden?
Das WM-Team 2013 ist eine ausgezeichnete Mischung. Simpson hat auch grosse, kräftige Typen mitgenommen. Denken Sie zum Beispiel an die Linie mit Moser und Niederreiter. Und dann gibt es Künstler wie Luca Cunti. Ich muss sagen, ich bin ein Fan von ihm. Er gleitet so ästhetisch wie ein Luftkissen über das Eis und hat weiche Hände. Cunti ist ein Supertechniker mit einem Hauch von Weltklasse, obwohl er noch zu wenig produktiv spielt.